Chronik
einer Stadt

Die Geschichte der Ramsesstadt unterscheidet sich maßgeblich von der Entwicklung anderer ägyptischer Großstädte, wie z. B. Theben, Memphis oder Heliopolis. Sie ist kein gewachsenes politisches oder religiöses Zentrum, sondern ein bewusst an der östlichen Landesgrenze aufgebauter Stützpunkt königlicher Macht: Ein Militärlager, die Residenz verschiedener Herrscher und Drehscheibe kulturellen Austauschs.

Aufstieg und Blütezeit

2000 v. u. Z.

Der östliche Bereich des Nildeltas ist bereits in prähistorischer Zeit besiedelt. Dies ist durch mehrere Friedhöfe und Siedlungen aus dem 4. Jahrtausend v. u. Z. nachzuweisen. Im Gebiet der späteren Ramsesstadt wird dann, um 2000 v. u. Z., mit der Gründung einer Plansiedlung begonnen, aus der sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte Avaris, die Hauptstadt der sog. Hyksos, entwickelt.

Die ursprünglich aus Südwestasien stammende Bevölkerungsgruppe beherrscht zwischen ca. 1700 und 1550 v. u. Z. den gesamten Norden Ägyptens. Die Bezeichnung „Hyksos“ leitet sich vom ägyptischen „Heqa Chasut“ ab, was mit „Herrscher der Fremdländer“ zu übersetzen ist.

Stierspringerfries aus Palast F in Tell el-Daba. © ÖAW-ÖAI.
Rekonstruktion eines Stierspringerfrieses aus Palast F in Tell el-Daba. © ÖAW-ÖAI.

1550 v. u. Z.

Um 1550 v. u. Z. wird Avaris durch König Ahmose erobert und fällt somit wieder an die Ägypter. Einige Teile des Stadtgebietes werden weiterhin genutzt und ausgebaut. In dieser Phase entsteht u. a. ein außergewöhnlicher, mit minoischen Fresken (Stierspringern) geschmückter Palast, der Rückschlüsse auf einen engen Kontakt mit diesem Kulturkreis zulässt. Auch der Hafen von Avaris wird weiterhin genutzt und behält somit seine strategisch wichtige Position als Umschlagplatz für ausländische Luxusgüter und Metall. Im 15. Jh. v. u. Z. verliert die Stadt zunächst für etwa 150 Jahre ihre Bedeutung.

Am Ende der 18. Dynastie (ca. 1330–1300 v. u. Z., unter der Regierung von Tutanchamun oder Haremhab) sind neue Siedlungsaktivitäten im Stadtgebiet nachzuweisen. Spätestens Sethos I. (ca. 1290–1280 v. u. Z.) beginnt mit dem konsequenten Ausbau der Stadt. In diesem Zuge errichtet er einen Palast, von dem heute noch türkisfarbene Fayencefliesen mit steinernen Einlagen zeugen, die zu einem monumentalen Tor gehörten. Die Rekonstruktion dieser Torverkleidung ist heute im Musée du Louvre in Paris zu sehen.

Fliese Sethos I. aus Pi-Ramesse, E 11518 84, © 2013 Musée du Louvre / Christian Décamps
Rekonstruktion des Stadtzentrums der Ramsesstadt. © artefacts-berlin.de.
Rekonstruktion des Stadtzentrums der Ramsesstadt. © artefacts-berlin.de.

1279 v. u. Z.

Zu Beginn der Regierung Ramses’ II. (ca. 1279 v. u. Z.) wird die Stadt in „Pi-Ramesse“ = „Haus des Ramses“ umbenannt. Nach der Schlacht bei Kadesch, im fünften Jahr seiner Regierung, kehrt der König mit seinem Heer hierher zurück und besiegelt damit die Bedeutung der Stadt als seine neue Residenz.

In ägyptischen Texten, z. B. den Papyri Anastasi II und IV, ist die Rede von der enormen Größe und beeindruckenden Architektur der Ramsesstadt. Archäologische Untersuchungen konnten diese Angaben in den vergangenen Jahrzehnten bestätigen: So muss das Stadtgebiet, das Ramses II. mit zahlreichen monumentalen Tempeln, Palästen und militärischen Einrichtungen ausstatten ließ, eine Fläche von bis zu 10 km² eingenommen haben.

Pi-Ramesse wird für etwa 100 Jahre zur Hauptstadt und königlichen Residenz. In ihrer Blütezeit steigt die Ramsesstadt zu einer der größten Siedlungen des gesamten Ostmittelmeerraumes und Westasiens auf. Hier treffen die Boten des hethitischen Königs auf den ägyptischen Herrscher, um den berühmten Friedensvertrag zwischen den beiden Reichen zu übergeben.

Der ägyptisch-hethitische Friedensvertrag im Tempel von Karnak. Foto: Henning Franzmeier.
Der in die Wand eingemeißelte ägyptisch-hethitische Friedensvertrag im Tempel von Karnak. Foto: Henning Franzmeier.

Aufgabe der Stadt

1150 v. u. Z.

In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhundert v. u. Z. verliert sich nach und nach das Wissen über die Ramsesstadt. Es gibt zwar einige archäologische Belege dafür, dass sie in einem gewissen Umfang fortbestand, wie z.B. ein Kochtopf aus Keramik; sichere Hinweise auf ihre damalige Funktion und Bedeutung oder die Anwesenheit von Königen gibt es dagegen nicht.

Zu Beginn der 21. Dynastie (um 1070 v. u. Z.) wird damit begonnen, die steinernen Monumente von Pi-Ramesse nach und nach abzubauen. Statuen, Säulen und Obelisken werden in die 30 km entfernte neue Hauptstadt Tanis verbracht, um dort für Neubauten wiederverwendet zu werden. Dieser Prozess dauert wahrscheinlich mehr als 100 Jahre und sorgt dafür, dass die Architektur der Stadt nahezu gänzlich aus der Landschaft getilgt wird. Danach wird die Ramsesstadt endgültig aufgegeben.

Die Erinnerung an die großartige Stadt der Ramessidenkönige ist noch im 7./6. Jahrhundert v. u. Z. präsent, da die „Stadt des Ramses“ in der biblischen Überlieferung als Hauptstadt Ägyptens deklariert wird. Ihre genaue Lokalisierung scheint jedoch bereits zu dieser Zeit nicht mehr bekannt gewesen zu sein. Im 4. Jahrhundert v. u. Z. kommt es in Tanis zu einer Wiederbelebung von Kulten, die es so nur in der Ramsesstadt gab. Pi-Ramesse selbst wird in dieser Zeit zwar wiederbesiedelt, eine besondere Rolle spielt der Ort jedoch nicht mehr. Pi-Ramesse bleibt fortan für über 2000 Jahre nur im kulturellen Gedächtnis präsent.

Typischer Kochtopf der späten 20./21. Dynastie (FZN 03/0125,0001). Foto: Axel Krause © Qantir/Pi-Ramesse-Projekt.
Typischer Kochtopf der späten 20./21. Dynastie (FZN 03/0125,0001). Foto: Axel Krause © Qantir/Pi-Ramesse-Projekt.
Wiederverwendete Steinblöcke aus dem Haupttempel von Tanis. Foto: Henning Franzmeier.
Wiederverwendete Steinblöcke aus dem Haupttempel von Tanis. Foto: Henning Franzmeier.

Wieder­entdeckung

1822

Dank der Entzifferung der Hieroglyphen im Jahre 1822 ist es im 19. Jahrhundert erstmals möglich, auch altägyptische Textquellen zur Ramsesstadt zu übersetzen. Sie schildern uns, wie die Ägypter selbst die Stadt Pi-Ramesse sahen: Als prächtige Metropole von großem Ausmaß, in der das Leben pulsierte.

Papyrus Anastasi III mit einem Lob auf die Stadt Pi-Ramesse. London, British Museum (EA10246,5). © The Trustees of the British Museum, London.
Papyrus Anastasi III mit einem Lob auf die Stadt Pi-Ramesse. London, British Museum (EA10246,5). © The Trustees of the British Museum, London.

1825

Seit etwa 1825 werden die Ruinenhügel der Stadt Tanis archäologisch erschlossen. Im Zuge dessen werden große Mengen an Monumenten mit dem Namen Ramses’ II. entdeckt. Da das Wissen um den eigentlichen Standort von Pi-Ramesse verloren gegangen war, entbrennt nun eine fast ein Jahrhundert andauernde Debatte darüber, wo genau die Stadt lokalisiert werden kann.

Obelisk Ramses' II. in Tanis. Foto: Henning Franzmeier.
Obelisk Ramses' II. in Tanis. Foto: Henning Franzmeier.

1928

1928 führt Mahmoud Ali Hamza, einer der ersten ägyptischen Archäologen, Grabungen in der Nähe des modernen Ortes Qantir durch. Hier waren bereits seit Jahrzehnten von Anwohnern des Dorfes Überreste aus pharaonischer Zeit entdeckt worden. Funde aus ramessidischer Zeit, wie prächtige Fayencefliesen mit den Namen Sethos’ I. oder Ramses’ II., und Amphorenaufschriften, die Pi-Ramesse nennen, interpretiert Hamza zurecht als Hinweis darauf, dass sich hier das Gebiet der Hauptstadt Ramses’ II befand.

Diese These wurde zunächst von vielen seiner Kollegen abgelehnt. Ab den 1950er Jahren konnte Hamzas Annahme jedoch bestätigt werden. Dazu trugen insbesondere die Ergebnisse der archäologischen Unternehmungen von Labib Habachi, Shehata Adam und Manfred Bietak bei. Habachi arbeitete vorwiegend im Gebiet des modernen Qantir.

Fliese von der Seite eines Treppenaufgangs aus dem Palast Ramses‘ II. in Pi-Ramesse. MMA 35.1.12. © Metropolitan Museum of Art, New York. Purchase, Rogers Fund, Edward S. Harkness Gift and by exchange, 1922, 1929, 1935.
Fliese von der Seite eines Treppenaufgangs aus dem Palast Ramses‘ II. in Pi-Ramesse. MMA 35.1.12. © Metropolitan Museum of Art, New York. Purchase, Rogers Fund, Edward S. Harkness Gift and by exchange, 1922, 1929, 1935.

1966

1966 begann Manfred Bietak mit seinen Grabungen im Gebiet von Tell el-Dab’a, dem antiken Avaris. Hier fand er u. a. Hinweise auf die ramessidische Siedlung.

1980

1980 übernahm das Qantir/Pi-Ramesse-Projekt des Roemer- und Pelizaeus-Museums in Hildesheim mit verschiedenen deutschen und internationalen Partnern die archäologische Erschließung des Ortes. Seitdem konnte das Bild, das wir von der antiken Stadt haben, entscheidend weiterentwickelt werden.

Edgar B. Pusch: 40 Jahre Grabungsleitung in der Ramsesstadt

Dr. Edgar B. Pusch berichtet über seine mehr als 40-jährige Tätigkeit als Leiter der archäologischen Ausgrabungen in Pi-Ramesse. Er erläutert, unter welchen Umständen die sog. Ramsesstadt wiederentdeckt wurde und wie es zu den Grabungsarbeiten in der heutigen Ortschaft Qantir kam.

Unser geschätzter Kollege Edgar B. Pusch verstarb am 7. Januar 2023.

Das Qantir/Pi-Ramesse-Projekt heute und morgen

2023

Auch mehr als 90 Jahre nach den ersten Grabungen durch Mahmud Hamza und nach über 40 Jahren kontinuierlicher Arbeit durch das Qantir/Pi-Ramesse-Projekt bleiben noch viele Fragen zur Ramsesstadt offen. So wurden bis heute nur etwa 0,5 % des Stadtzentrums ausgegraben; ca. 30 % des Stadtgebietes konnte durch magnetische Messungen untersucht werden. Während über die Stallungen und die Metallverarbeitung viele Informationen vorliegen, sind andere Teile von Pi-Ramesse nach wie vor unerforscht. So wurde bislang keines der Wohnhäuser vollständig ausgegraben. Auch monumentale Bauten, wie Tempel, die es hier sicher gegeben hat, konnten noch nicht sicher nachgewiesen werden.

Gesamtübersicht der magnetischen Messungen mit Interpretation. Gelb markiert sind die Grabungen der Jahre 1980‒2004. Aus E. B. Pusch/H. Becker, Fenster in die Vergangenheit. Einblicke in die Struktur der Ramses-Stadt durch magnetische Prospektion und Grabung (2017), Hauptplan 1.2. © Qantir/Pi-Ramesse-Projekt.
Gesamtübersicht der magnetischen Messungen mit Interpretation. Gelb markiert sind die Grabungen der Jahre 1980‒2004. Aus E. B. Pusch/H. Becker, Fenster in die Vergangenheit. Einblicke in die Struktur der Ramses-Stadt durch magnetische Prospektion und Grabung (2017), Hauptplan 1.2. © Qantir/Pi-Ramesse-Projekt.

Dies traf bislang auch auf die Paläste zu, die in Pi-Ramesse in größerer Anzahl existiert haben müssen. Derzeit wird im „Grabungsareal Q VIII“ zum ersten Mal ein solcher Palast ausgegraben. Insgesamt besaß die Anlage eine Grundfläche von ca. 150 × 250 Metern. Sie bestand aus einer Vielzahl von Bauteilen: einem Hauptgebäude mit dem Thronsaal im Zentrum, den man durch mehrere von Säulen getragene Vorräume erreichen konnte. Davor lagen offene Höfe. Hinter flankierenden Mauern befanden sich ausgedehnte Magazinräume, in denen Lebensmittel und weitere Güter des täglichen Bedarfs in großer Menge – einem königlichen Palast angemessen – gelagert wurden.

Die Grabungen im Areal Q VIII werden noch mindestens bis 2024 fortgeführt, um alle Bestandteile des Gebäudekomplexes zumindest exemplarisch ausgegraben zu haben. Im Anschluss daran soll die Erforschung der Stadt an den Stellen fortgesetzt werden, über die bislang kaum etwas bekannt ist. Dies beinhaltet u. a. das Schließen der noch vorhandenen Lücken in der Magnetik. Es soll z. B. untersucht werden, wie weit sich die Stadt in nördliche Richtung erstreckte. Der nördliche Bereich von Pi-Ramesse soll dann grundsätzlich in den Vordergrund rücken, da bisher fast ausschließlich im Süden des modernen Qantir gegraben wurde. Darüber hinaus sollen Wohnhäuser in den Blick genommen werden, um die Lebensrealitäten der Einwohner der antiken Stadt besser nachvollziehen zu können.

Blick über die Grabungen des Jahres 2022. Foto: Robert Stetefeld © Qantir/Pi-Ramesse-Projekt.
Blick über die Grabungen des Jahres 2022. Foto: Robert Stetefeld
© Qantir/Pi-Ramesse-Projekt.
Magnetischer Plan des zentralen Gebäudes des Palastbezirkes. Orange markiert sind die im Frühjahr 2022 gegrabenen Areale. © Qantir/Pi-Ramesse-Projekt.
Magnetischer Plan des zentralen Gebäudes des Palastbezirkes. Orange markiert sind die im Frühjahr 2022 gegrabenen Areale.
© Qantir/Pi-Ramesse-Projekt.
Magnetbild der sog. West-Stadt und des Verwaltungsviertels von Pi-Ramesse mit Interpretation. Auf der linken Seite ist ein kleinteilig und dicht bebautes Wohnviertel zu erkennen. Aus E. B. Pusch/H. Becker, Fenster in die Vergangenheit. Einblicke in die Struktur der Ramses-Stadt durch magnetische Prospektion und Grabung (2017), 241, Abb. 188. © Qantir/Pi-Ramesse-Projekt.
Magnetbild der sog. West-Stadt und des Verwaltungsviertels von Pi-Ramesse mit Interpretation. Auf der linken Seite ist ein kleinteilig und dicht bebautes Wohnviertel zu erkennen. Aus E. B. Pusch/H. Becker, Fenster in die Vergangenheit. Einblicke in die Struktur der Ramses-Stadt durch magnetische Prospektion und Grabung (2017), 241, Abb. 188. © Qantir/Pi-Ramesse-Projekt.

Aktuelle Ausgrabungen
in Qantir/Pi-Ramesse

Dr. Henning Franzmeier, Grabungsleiter des Qantir/Pi-Ramesse-Projekts, stellt die Feldarbeiten der Frühjahrskampagne 2022 in der Ramsesstadt vor. Er spricht über die Ziele der Ausgrabung, die eingesetzten Forschungsmethoden und die teilnehmenden Mitarbeiter:innen und Projektpartner:innen.

Quftis: „Wir sind Ausgräber, die Mauerreste, Keramik und Stein freilegen…“

Vier langjährige Mitarbeiter der Grabung in Qantir stellen sich vor. Die Ausgräber aus Koptos, die sog. Quftis, sind hochspezialisierte Archäologen, die für das Projekt angestellt werden.

Team-Porträts: Archäologische Zeichnerin

Das Zeichnen archäologischer Objekte setzt eine besondere Ausbildung und Expertise voraus. Josefine Bar Sagi, studentische Mitarbeiterin des Qantir/Pi-Ramesse-Projekts, zeigt anhand eines Relieffragments, wie sie arbeitet und welche Techniken sie anwendet.

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